eee eee 5 eee R e 8 9 ere umu net G. Segen cee Vorboten 2. Seite/ Nummer 3 Neue Mannheimer Zeitung/ Mittag⸗Ausgabe Samstag, 3. Januar 1931 länge re Kreditfriſten bei Auslandbeſtellun⸗ gen verſtärkte. In den deutſch⸗ruſſiſchen Preſſeerörterungen herrſchte vielfach ein recht ſcharfer Ton. Man hat hier eben, ſo wurde dies gelegentlich nicht ohne Witz be⸗ gründet, man macht ſich hier eben keine Illuſtonen mehr darüber, daß ſich Deutſchland etwa noch welche einreden ließen. 5 Nein, in der Tat, man denkt heute auch bei uns nüchtern. Aber läßt ſich nicht gut und gern vertreten, daß gewiſſe Grundelemente der deutſch⸗ruſſiſchen Be⸗ ziehungen auch das helle Licht unbetrogener Be⸗ urteilung vertragen? Daß die rein ſachliche Ab⸗ ſchätzung des beiderſeitigen Verhältniſſes, in wel⸗ chem der Grundſatz richtig bilanzierender Gegenſeitigkeit ältere unklare und für uns nachteilige Maximen zunehmend erſetzen muß, die beſtangebrachte Methode iſt? K lare Rechnung ver⸗ längert das Einvernehmen. i Die„Seuche des politiſchen Totſchlags Drahtung unſeres Berliner Büros Berlin, 3. Jan. . Die ſchwere politiſche Bluttat, die ſich in der Neu⸗ jahrsnacht im Nordoſten Berlins abgeſpielt hat und der zwei Reichsbannerleute zum Opfer gefallen ſind, beſchäftigte geſtern den ganzen Tag über die Polizeibehörden. Fünf Nationalſozialiſten, die inzwiſchen feſtgenommen wurden, haben jede Schuld beſtritten, und der Goebbelſche„Angriff“ behauptet, daß der Täter, der die verhängnisvollen Schüſſe abgegeben hat, nicht der Nationalſozialiſti⸗ ſchen Partei angehöre. Namentlich in der Frage, wer der angegriffene Teil geweſen ſei, gehen die Darſtellungen, wie in ſol⸗ chen Fällen üblich, weit auseinander. Der„Vor⸗ wärts“ nimmt den Vorfall zum Anlaß, um ſchär⸗ fere Maßnahmen gegen die„Se uche des politi⸗ ſchen Totſchlags“ zu verlangen: „So wie bisher geht es auf keinen Fall weiter. Vor allem muß man ſich wieder in der Republik zur Republik bekennen dürfen ohne Gefahr, dafür er⸗ ſchoſſen zu werden. Es iſt Sache der Verantwort⸗ lichen, alles dazu Notwendige zu tun, um gren⸗ zenloſes Unheil zu vermeiden.“ Das Reichsbanner hat für den kommenden Sonn⸗ tag eine Proteſtkundgebung anberaumt, in der die Hauptrede der Vorſitzende der S. P.., der Reichs⸗ tagsabg. Wels, halten wird. Aufſehen erregende Strafanzeige Drahtbericht unſeres Berliner Büros Berlin, 3. Jan. Der nationalſozialiſtiſche Reichstagsabg. Regie⸗ kungsrat Fabricius, hat, wie die„Deutſche Zei⸗ tung“ mitteilt, gegen den Kommandeur der Berliner Schutzpolizei, Oberſt Heimannsberg, Stra F anzeige wegen Meineid geſtellt. ö Fabricius wurde, wie erinnerlich, vom Schnell⸗ richt zu einer Geldſtrafe verurteilt, weil er bei en Nemarque⸗Un ruhen ſich den Weiſungen der Phlizei nicht gefügt hat. Fabrleius behauptet in der Begründung ſeines Strafantrags, daß Heimanns⸗ herg unter Eid eine falſche Darſtellung des Vor⸗ gangs gegeben habe. Gutspächter erſchießt ſeine Hausangeſtellte — Loetzen, 2. Jan. In dem Glauben, einen Ein⸗ brecher vor ſich zu haben, erſchuß heute früh der Gutspächter Straßburger in Bieſtern bei Loetzen ſeine Hausangeſtellte. Straßburger erwachte gegen Morgen an einem verdächtigen Geräuſch. In der Annahme, daß Ein⸗ brecher am Werke ſeien, nahm er eine Taſchenlampe und einen Revolver und begab ſich auf den Flur. Als er dort eine Perſon ſich bewegen ſah, die auf die Frage„Wer da?“ keine Antwort gab, ſchoß Straß⸗ burger, der ſich in großer Erregung befand, in das Dunkel des Flurs. Wie er zu ſeinem Entſetzen ent⸗ decken mußte, hatte er ſeine eigene Hausangeſtellte Frl. Drubba, erſchoſſen. Man macht aus der Nol eine Tugend Plötzliche Vereitſchaft des gologeſättigten Frankreichs zur finanziellen Anterſtützung anderer Staaten Drahtung unſeres Pariſer Vertreters Paris, 3. Januar. Zwiſchen den Vertretern des franzöſiſchen und engliſchen Finanzminiſteriums fand geſtern eine Aus⸗ ſprache ſtatt, in der finanzielle Fragen behandelt wurden, die für beide Länder von großer Bedeutung ſind. Im Mittelpunkt der Beſprechungen, die, wie von amtlicher Seite betont wird, einen Meinungs⸗ austauſch und keine offizielle Konferenz darſtellen, ſtand das Syſtem der Orgauiſation einer engeren Zuſammenarbeit zwiſchen den franzöſiſchen und engliſchen Geldmärkten, ſowie die Frage der Regulie⸗ rung der Goldbewegung. Der gewöhnlich ſehr gut unterrichtete Außenpoli⸗ tiker des„Matin“, Jules Sauerwein, weiß zu den Beſprechungen zu berichten, daß es ſich nicht um die Ausgabe einer Staatsanleihe für Großbritannien, ſondern vor allem um Hilfsmaßnahmen für gewiſſe private engliſche Unternehmen handle. Ferner ſoll dem Londoner Geldmarkt die Sicherheit und Leichtig⸗ keit wiedergegeben werden, die für die vom engliſchen Arbeiterkabinett geplanten Konvertierungen not⸗ wendig ſind. Die Bank von Frankreich würde, wie Sauerwein betont, zu einem ſolchen Geſchäft ſehr gerne ihre Mitwirkung zur Verfügung ſtellen, denn ihr Ziel ſei, die ihr nicht erwünſchte Goldzufuhr nach Frankreich ſoweit wie möglich einzuſchränken. Sauerwein ſpinnt den Gedanken der finanziellen Unterſtützung anderer Staaten durch das goldgeſättigte Frankreich weiter aus und erinnert daran, daß am 16. Januar das europäiſche Studienkomits in Genf unter Briands Vorſitz zuſammentreten wird. Frankreich werde ſeine Bereitſchaft zeigen, um an dem Wieder⸗ aufbau Europas und der Vereinheitlichung des euro⸗ päiſchen Marktes mitzuhelfen. Frankreich werde ſich nicht in nationalem Egois⸗ mus einſchließen, ſondern es als Pflicht und Weisheit betrachten, Europa zu helfen, den Weg ausder Kriſe zu finden. Diejenigen Länder, ſo fährt Sauerwein mit einem Blick auf Deutſchland und Italien fort, die Frankreichs finanzielle Hilfe notwendig haben, müßten ſich aber an drei Dinge erinnern: 1. Es bedeutet keine übertriebene Forderung von ſeiten Frankreichs, wenn es verlangt, daß man ſich mit ſeinen qualifizierten Vertretern unterhält, denn letzten Endes wird Frankreich zum großen Teil die finanzielle Hilfe leiſten müſſen. 2. Es hat keinen Zweck, einen Gerichtshof bilden zu wollen, vor dem Frankreich beſchuldigt wird, Gold zu beſitzen oder von dem es verurteilt werden ſoll, das Gold mit anderen zu teilen. 3. Die einzige Art, jedes Mißtrauen zu beſeitigen, das ein Hindernis für die für gewiſſe Länder not⸗ wendigen Anleihen darſtellt, beſteht darin, ſich jeder reviſioniſtiſchen Propaganda zu ent⸗ halten. Deutſchlan d zugewendet, fährt Sauerwein fort: Es iſt das Recht eines beſiegten Landes, eine Verbeſſerung ſeiner durch die Friedensverträge geſchaffenen Situation zu erſtreben. Die Verträge ſelbſt ſehen die Bedingungen dieſer Reviſion vor. Man kann aber nicht zwei Ziele gleichzeitig verfolgen. Von Frankreich finanzielle Unterſtützung verlangen und gleichzeitig in drohen⸗ dem Ton die Annullierung aller Verträge und die Berichtigung von Grenzen zu fordern, entſpricht einer Politik, die voll von Widerſprüchen iſt. Sauerwein meint, daß die Zuſammenarbeit der franzöſiſchen und britiſchen Schatzämter eine gute Einleitung für eine allgemeine Ausſprache über die europäiſchen Sorgen und Bebürfniſſe darſtelle. Eine ſolche Ausſprache könne in weitherzigem Sinne ge⸗ führt werden, müſſe aber vom geſunden Menſchen⸗ verſtand beherrſcht ſein. Die ſelbſtbewußten Ausführungen Sauerweins dürften nicht ſo ſehr von der Nächſtenliebe und Hilfsbereitſchaft Frankreichs diktiert ſein, wie ſie der geſchickte Journaliſt der Welt glauben machen möchte. Auch an Frankreichs Pforte klopft die Kriſe und das Geſpenſt der Arbeitsloſigkeit erhebt ſich immer dro⸗ hender. Was für Frankreich heute vielleicht noch freier Wille iſt, dürfte morgen zum harten Zwang werden. Es wird Frankreich einfach nichts anderes mehr übrig bleiben, als ſich mit den anderen europäiſchen Mächten, gleichgültig ob Siegerſtaaten oder Beſiegte, über eine vernünftige Neuregelung der europäiſchen Verhältniſſe auseinanderzuſetzen. Stimmungsmache zur Natstagung Der Aufſatz eines Polenfreundes in der„Times“ Drahtung unſ. Londoner Vertreters § London, 3. Jan. Was ſeit einigen Tagen von eingeweihten Kreiſen als ziemlich ſicher hingeſtellt wurde, nämlich daß der deutſche Außenminiſter Dr. Curtius auf der kom⸗ menden Tagung des Völkerbundsrates nicht den Vorſitz führen, ſich aber dafür einſetzen würde, daß der britiſche Außenminiſter Henderſon dieſes Amt an ſeiner Stelle übernimmt, wird von der heutigen „Times“ als faſt feſtſtehende Tatſache berichtet. Dr. Curtius wünſcht bekanntlich, diesmal von dem Amt des Vorſitzenden befreit zu ſein, da er beabſich⸗ tigt, zu verſchiedenen auf der Tagesordnung ſtehen⸗ den Punkten, insbeſonders der Frage der Minder⸗ heiten, den Standpunkt der deutſchen Regierung perſönlich zu vertreten. Während geſtern der„Daily Telegraph“ zugegeben hatte, daß Deutſchland wohl Grund zur Be⸗ ſchwerde wegen der Behandlung der deutſchen Minderheit in Polen habe, iſt der der kommenden Ratstagung gewidmete Kommentar der heutigen „Times“ erheblich zurückhaltender, ja eher polen⸗ freundlich abgefaßt. Es heißt darin u..: Henderſons Fähigkeiten als Vorſitzender dürften einer ſchweren Prüfung unterworfen werden, falls, wie in einigen Kreiſen befürchtet wird, die Haltung der deutſchen Delegation das Er⸗ gebnis der kürzlichen Reichstagswahl wider⸗ ſpiegelu ſollte. Zwei Punkte der Tagesordnung ſind von allgemei⸗ ner europäiſcher Bedeutung und könnten leicht in einer geſpannten Atmoſphäre erörtert werden. Deſſen erſter iſt die deutſche Minderheitenfrage in Ober⸗ ſchleſten. Die Beſchwerden der Minderheiten haben den Gegenſtand verſchiedener Petitionen und Appelle gebildet. Die Lage ſei ferner durch die Reibung zwi⸗ ſchen der polniſchen Regierung und dem oberſchleſt⸗ ſchen Völkerbundsvertreter Calonder kompliziert worden. Nach Eingehen auf die Petitionen der ukrainiſchen Minderheiten, die, wie das Blatt ſagt, ſich von antipolniſchen Kreiſen ermutigt gefühlt hätten, ſo viel wie möglich aus ihrer Frage zu machen, wird erklärt: Die polniſche Regierung dürfte zur Antwort auf die Kritiken bereit ſein und vielleicht wird die Antwort die Form eines Gegen⸗ angriffes annehmen. Der zweite Punkt von allgemeiner Bedeutung ſei die Diskuſſion des Schlußberichtes der Kommiſſton zur Vorbereitung der Abrüſtungs konferenz. Der Rat wird den Termin des Zuſammentritts der Konferenz feſtzuſetzen ſowie die Ernennung ihres Vorſitzenden vorzunehmen haben. Hier ſieht das Blatt eine Möglichkeit, daß der Erfolg der Nationalſozialiſten die deutſche Dele⸗ gation veranlaſſen könne, auf einen frühe⸗ ren Zuſammentritt zu dringen, als von anderen in⸗ tereſſterten Mächten gewünſcht wird. Wenn auch, wie üblich, der Artikel der„Times“ ohne jedes Zeichen erſcheint, ſo glaubt ihr Korreſpon⸗ dent doch Grund zu der Annahme zu haben, daß es ſich bei dem Verfaſſer um eine Perſönlichkeit handelt, die ſich ſchon des öfteren in ihren Publikationen als polenfreundlich erwieſen hat. Wo liegt die Schuld? Drahtbericht unſeres Berliner Büros = Berlin, 3. Januar. Ueber einen diplomatiſchen Zwiſchen⸗ fall in Bukareſt wird dem„Lokal⸗Anzeiger“ berichtet. König Carol hatte danach geſtern um 12.15 Uhr die diplomatiſchen Vertreter empfangen. Es fiel allgemein auf, daß der deutſche Geſandte nicht anweſend war. Nach dem Empfang hatte der König ſich in ſeine Privatgemächer zurück⸗ gezogen. Als etwa eine Stunde ſpäter plötzlich der deutſche Geſandte von Mut ius erſchien und den König um eine ſofortige Unterredung bitten ließ, um ihm die Gründe ſeines Zuſpätkommens mitzuteilen, wurde die Audienz abgelehnt. Wie die deutſche Ge⸗ ſandtſchaft mitteilt, war auf der Einladungskarte, die der päpſtliche Nuntius als Führer des diplomatiſchen Korps ausgeſtellt hatte, die Empfangszeit mit 13.45 ſtatt 12,15 Uhr angegeben worden. Letzte Meldungen Wetterbericht aus dem Schwarzwald r. Triberg, 3. Januar.(Eig. Dr.) Auch für das Wochenende hat der unbeſtändige Wettercharakter, der geſtern abend noch Froſt verzeichnete, über Nacht dem Winterſport wiederum einen ſchweren Strich durch die Rechnung gemacht, indem mit gleichzeitigen ſtarken Niederſchlägen eine heftige Föhnwelle über den Schwarzwald gezogen iſt. Die Temperaturen liegen heute bis in Höhen von etwa 1800 Meter über Null, ſodaß der geſamte Schwarzwald in den Bereich der Warmluft eingezogen iſt. Infolgedeſſen fällt auch am Feldberg bei 3 Grad Wärme Regen, teilweiſe untermiſcht mit naſſen Schneeſchauern. Die engliſche Oſtaſienfliegerin in Köln gelandet — Köln, 2. Januar. Die engliſche Fliegerin Amy Johnſon iſt heute 14,35 Uhr von Lüttich kommend auf dem Kölner Flugplatz Butzweilerhof glett ge⸗ landet. Infolge des ſchlechten Wetters wird Miß Johnſon erſt morgen früh zur nächſten Etappe ihres Fluges nach Peking über Berlin nach Warſchau ſtarten. Raubüberfall— 10 000 Mark erbeutet — Emden, 3. Jan. Auf die Sparz und Dar⸗ lehenskaſſe in Marienhafen(Oſtfriesland) wurde geſtern abend ein Raubüberfall verübt. Den Tätern — es handelt ſich um drei Perſonen— ſollen, nach erſten Mitteilungen, rund 10 000 Mark in die Hände gefallen ſein; Einzelheiten fehlen noch. Auf Benachrichtigung von Landjägern hat ſich eine An⸗ zahl Emdener Kriminalbeamte nach dem Tatort be⸗ geben. 5 Abreiſe Venizelos' aus Warſchau — Warſchau, 3. Jan. Der griechiſche Miniſterprä⸗ ſident Venizelos hat geſtern abend Warſchau ver⸗ laſſen und iſt nach Wien abgereiſt. Großer Erdrutſch in Norwegen — Oslo, 2. Jan. Ein großer Erdrutſch ereignete ſich heute früh am Fluß Glom in der Nähe von Sarpsborg. Durch die in den Fluß geſtürzten Erd⸗ maſſen wurde die Schiffahrt einige Stun⸗ den behindert, doch iſt die Fahrrinne fetzt wieder paſſierbar. Menſchenleben hat das Ereignis nicht gefordert. .————.—. T ̃ ̃ W——————̃— „Wie klein iſt doch die Welt!“ Streifzug durch die Pariſer Bühnen [(Von un ferem Pariſer Vertreter) Ein Prophet des franzöſiſchen Theaters ſieht ſoeben das Erſcheinen eines modernen Corneille voraus und erinnert ſeine Landsleute daran, daß„ein großer Dramenſchreiber ein Poet ſein ntuß“. Paul Claudel und Jules Romains ſeien die des nahenden Corneille, des lyriſchen Bühnendichters. Von Paul Claudel wird ein neues Werk erwartet; Jules Romains brach in dieſer Winter⸗ ſpielzeit ſiegreich durch. Er iſt der am meiſten ge⸗ n ſpielte Bühnenautor. Während ſein„Doktor Knock“ zum Beſtand der zeitgenöſſiſchen franzöſiſchen Theaterliteratur geworden iſt, erſcheinen von ihm drei neue Dramen, die Theſenſtücke ſind, bittere, ätzende, fern aller Lyrik und Poeſie ſich bewegende Kritiken der Zeit und der Menſchen. Romains ſetzte ein Theater durch, das in gewiſſem Sinne den peſſi⸗ miſtiſchen Untergrund der Komödien Georges Courte⸗ lines an die Oberfläche führt, das Drolligkeit, gut⸗ mütiges Spotten über„menſchliche Schwächen“ in das Licht menſchlicher Gemeinheit und Verlogenheit rückt. Romains iſt ein aus der Moral des Nachkriegs⸗ franzoſen ſchöpfender Ibſen, wehrt ſich aber entſchie⸗ den gegen die Technik des alten Boulevardtheaters, gegen Bühnenwirkungen, rührſame Wendungen. Er will die Theſe, ſcharf zugeſpitzt, wie einen Pfeil, dem Zuhörer ins Geſicht ſchleudern; er will treffen und aufrütteln, aber auch zum Widerſpruch reizen. Sind wir wirklich ſo erbärmliche Menſchen? Ueber dieſe Doktorfrage zerbrechen ſich die Kritiker der neueſten drei Stücke von Jules Romains den Kopf. Sie tun ihn nicht ſo ab, wie einſtmals Fran⸗ eisque Sarcey den„nebelhaften“ Skandinaven Hen⸗ rik Ibſen.(Strindberg kennt man in Frankreich nicht; vielleicht würde er jetzt durch die Komödien des Franzoſen Jules Romains Verſtändnis finden). „Donogoo“ von Romains erſchien im „Théatre Pigalle“. Fünfzehn Bilder zeigen uns die grotesken Taten und Untaten eines phauta⸗ ſiereichen Erfinders und Finanziers. Für den Dich⸗ ter iſt es ganz unwichtig, eine Handlung, eine Fabel dramatiſch zu geſtalten. Er begnügt ſich mit ſkizzen⸗ haften, vom Bühnenhaften abgekehrten Szenen. Sein Ziel richtet ſich auf die Froniſierung, Verhöh⸗ nung geldgieriger Menſchen, die den Dummen be⸗ trügen und ſich unbändig darüber freuen. Die Theſe: Der Stkrupelloſe ſiegt über den Tölpel, wird mit einer fein zugeſpitzten Dialektik vertreten. Da Ju⸗ les Romains ſein Stück als Luſtſpiel bezeichnet, ſo bemühen ſich die Leute zu lachen, aber es iſt das Lachen der Schadenfreude über die dummen Be⸗ trogenen. „Muße oder die Schule der Heuchelei“ nennt ſich die Komödie, die der hochbegabte Schau⸗ ſpieler und Direktor des„Atelier“ herausgebracht hat. Der„Held“ gleicht dem kläglichen, tragikomi⸗ ſchen Typ einer Novelle von Courteline. Gegen die Mißlichkeiten und Schlechtigkeiten dieſer Welt führt er einen Maulwurfskrieg. Das wirkt ſehr luſtig, iſt aber durchſetzt von den galligſten Ausfällen gegen die braven Franzoſen, die von Jules Romains ſo gründlich hergenommen werden, daß ſich die Kritiker eines„Temps“ und anderer hochbürgerlicher Zeitun⸗ gen darüber empören. Muße, verzweifelt über die Heuchelei ſeiner Umgebung, ſucht, wie ein Diogenes, nach honetten Leuten. Vergeblich. Ueberall grinſt ihm die Lüge, der Schwindel, die Niedertracht ent⸗ gegen. Schließlich findet er Ruhe beim alten Weibe, das ihm den Rat gibt, der Außenwelt das Geſicht der Heuchelei zu zeigen. Muße verſpricht es. Wird es ihm glücken? Das Stück bleibt uns die Antwort ſchuldig. Die dritte Komödie, Bosnoder der Beſitz von Gütern“ zog in das zweite franzöſiſche Nationaltheater„Odébon“ ein. Es kann für das ſchärfſte Theſenſtück gelten, das Jules Romains bis⸗ her geſchrieben hat. Sicherlich iſt das brutalſte. Bosen wurde reich— fragt mich nicht Wie!—, er will ſein Geld ausgeben. Andere um ſich glücklich ſehen. Ro⸗ mains ſucht den Beweis zu führen, daß Bon ſein Geld nicht ausgeben kaun. Und weshalb? Weil es die Menſchen, die er beglücken möchte, verachten, weil ſie ſich„nicht kaufen laſſen.“ Dieſe Menſchen rings um Bon ſind nicht normal; ſie dienen dem Autor zur Begründung ſeiner Theſe und zur Staffage ſeiner Demonſtration, die ihren Gipfelpunkt in einer Kampfrede gegen den angeſammelten Reichtum und den Wahn der„neuen Reichen“ findet, daß man mit Geld Andere glücklich machen könne. In dieſer Ko⸗ mödie kommen Ueberraſchungen ſonderbarer Art vor: ein junger Mann, der ſich in Geldverlegenheit befindet, zerreißt einen Scheck über zehntauſend Frances, der ihm von Bon ohne jede Gegenver⸗ pflichtung in die Hand gedrückt wird. Die bühnen⸗ mäßige Wirkung wird vermieden. Der Zuhörer blickt auf eine Tribüne, wo die Theſe:„Verachte das Geld und die, die es beſitzen,“ bewieſen werden ſoll, Es iſt erſtaunlich, daß Jules Romaines glänzende Dar⸗ ſteller gefunden hat. Dullin im„Atelier,“ Arquilliere im„Odéon“ verhalfen ihm zu ſtarken Erfolgen. Das Schauſpieleriſche triumphiert und läßt die Voraus⸗ ſage zu, daß noch andere Autoren den Spuren Jules Romains folgen werden. Henri Bernſtein ſtellte einen modernen Hamlet auf die Bühne ſeines Theaters, des„Gymnaſe“. Ein junger Menſch, der ſeine kränkliche Jugend in einer bayriſchen Privatklinik verbringt,(wir hören einen in deutſcher Sprache geführten Dialog) erfährt, daß ſeine Mutter von ihrem Geliebten, einem Gymnaſiallehrer, den Vater umbringen ließ. Er findet ſeine Geſundheit wieder, das Leben, der helle Tag umfängt ihn, läßt ihn das Werk der Vergeltung vergeſſen. In einer Reihe knapper Szenen und Bilder, die den Befreiungsprozeß rein pſfychologiſch ſchildern, folgen wir dem Schickſal des jungen Menſchen. Erſt am Schluß wird der Mörder von den Gerichten ergriffen. Das Leben hat ſelbſt für das Nötige geſorgt; es bedurfte nicht eines Hamlet. Bernſteins Theſe klingt bitter:„Die Toten herrſchen über die Welt, ſie herrſchen nicht über unſre Herzen. Alles auf Erden iſt Ausgleich, leben heißt ſich aus⸗ gleichen. Wie matt klingt dieſe Anſchauung gegen⸗ über dem kämpferiſchen Schwung eines Jules Romains! Und ſo iſt Henri Bernſtein, den einſt Antoine aus der Taufe hob,— das packende Drama hieß„Le Marché“— der Reſignierte geworden, den das Verbrechen nicht mehr aufrüttelt. Jules Romains ſtitrmt, gleich einem Fortinbras, das Pariſer Theater. Gütig lächelnd zeigt ſich Triſtan Bernard, der die Erlaubnis erhalten hat, ein kleines Theater —„Edouard VII“— umzutaufen und ihm ſeinen Namen zu geben. Er läßt dort ein gemütliches Luſt⸗ ſpielchen:„Wie klein iſt doch die Welt“, auf⸗ führen, das irgendwo an Pailleron erinnert. Ein reicher Mann läßt ſein Töchterchen daheim und be⸗ ſucht diskret einen netten Herrn, den er mit dem Kinde aus finanziellen Gründen gern verheiraten möchte. Der Couſin benutzt die Gelegenheit, um das Töchterchen zu entführen, die Gouvernante begleitet das Pärchen. In Monte Carlo ſoll der Verſuch ge⸗ macht werden, Geld zu verdienen. Es geht aber ſchtef. Aller Barmittel entblößt, entſchließen ſich die Drei, als Muſikanten ihr Leben zu friſten. Vor einem Palacehotel zupft der Junge die Guitarre, das Mädchen ſingt dazu, die Gouvernante ſammelt Geld ein. Wer erſcheint am Fenſter? Papa. Er empfin⸗ det Mitleid. Noch einmal wird geſpielt. Und dies⸗ mal hat der Junge Glück. In diere Komödie des alten Triſtan Bernard führt man die jungen Mädchen in den Weihnachtsferien. Wie klein iſt doch die Welt, wie angenehm das Leben 5 Der Theaterhimmel bleibt umwölkt. Kleine Bühnen kommen über die Kriſen ohne Ende durch allerlei Transaktionen hinweg, die großen friſten kümmerlich ihr Leben. Steuerlaſten erdrücken den Betrieb. Den dramatiſchen Aufſchrei riskierte das erſte Nationaltheater Frankreichs, die„Comédie Francaiſe“. Der Schauſpieler Alexan dre, der herrliche Ruy Blas, iſt Budgetberichterſtatter des Hauſes Moliere und ſeiner Truppe. Alexandre ſchrieb einen ſchonungsloſen Bericht an die Regierung, Er beklagt ſich darüber, daß Po⸗ litiker und Miniſter mittelmäßige Kräfte der Bühne aufzwingen, wodurch ein enormes Anwachſen der Ausgaben verurſacht wird. Dann ſchildert er das Abwandern der beſten Darſteller und Darſtellerinnen zum Film, die Unmöglichkeit, ein Enſemble zu er⸗ halten. Die Penſionen ſind ungenügend, die Unter⸗ haltskoſten reichen nicht mehr aus, um die Ver⸗ beſſerungen durchzuführen. „Wir ſind bitter arm“, ſchreibt Alexandre, „man hat nichts für uns ührig.“ Ein ſchlechtes Zeug⸗ nis für das kunſtſinnige Frankreich. Fl, 40 e„-.. eee Och e oo 18 8. „nn — 2 95 25 82 1 1 8 n
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142 (3.1.1931) 3. Mittagsblatt
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