Seite 32 MORGEN Mittwoch, 31. Dezember 1958/ Nr. 300 paris am Jahresende Die Hauptstadt Frankreichs will eine große internationale Kunstsiedlung an den Seine: Kais schaffen „La vie, c est de la victoire qui dure“— das Leben ist ein immer neu erkämpfter Dauersieg—, dieses eine Wort aus Roger Martin du Gards vor 45 Jahren erschienenem und noch immer lebendigem, zeit chronischem Roman einer moralischen und geistigen Krise,„Jean Barois“, sei heute einer gewis- Sen, nur allzu oft sich, diesseits und jenseits der Grenzen, in Kleinmütigkeit und Ver- Zweiflung gefallenden Jugend ins Gedächtnis gebracht. Mit Rouault und Vlaminck gehört Roger Martin du Gard zu den im Jahr 1958 vom Tod abberufenen Fackelträgern einer Kunst und einer Geistigkeit, die in Frank- reich ihre Wurzeln hatte und für die ganze gebildete Welt gültig bleibt. Mit ihrem un- ermüdlichen Lebensmut und ihrer kompro- üglosen Treue zur eigenen Wahrheit ver- bemd sich bei diesen Menschen eine hohe Lektion der Bescheidenheit, für die der weise Jean Schlumberger in seinem Nachruf auf den Mitbegründer der„Nouvelle Revue Francaise den Autor der„Thibaults« und des Jean Barois“ mit folgenden Worten zeugte:„Seine Gegenwärtigkeit in den Let- dern hatte etwas Starkes und Stilles. Eine gewisse menschliche Qualität hat es nicht notwendig, sich ständig unter Beweis zu „Der Unschuldige“ Fritz-Hochwälder-Premiere in Wien Fritz Hochwälder sagt im Programmheft zu seiner Komödie„Der Unschuldige“, die eben im Wiener Akademietheater uraufge- dUührt wurde, daß es der ausschließliche Zweck geines kleinen Stückes wäre, einem einzig- artigen Schauspieler Gelegenheit zu geben, wel Stunden lang in einer tragenden Rolle zu brillieren. Dieser Zweck wird zwar voll er- Füllt, doch stecken in dieser Komödie wohl noch andere, vom Verfasser nicht zugegebene, Ansprüche. Der wohlhabende Spießer und Haustyrann Erdmann(offensichtlich als Bru- der des„Jedermann“ gemeint) gerät in den Verdacht, in der Jugend einen Nebenbuhler eite geräumt zu haben: bei einer Ausgra- püng in seinem Garten wird dort das Skelett eines Erschlagenen gefunden. In einem Schnellprozen, der an das über Jedermann verhängte Gericht erinnert, aber auch deutlich Züge der entsprechenden Szenen aus Kafkas Prozeß“ trägt, stellt sich in heiterer, geradezu schwankhafter Weise die völlige Unschuld des Verdächtigten heraus. Das alles ist handwerk ch recht geschickt exponiert: im ersten Akt Wird der selbstgefällig polternde, im Grunde höchst gutmütige, Haustyrann im Kreise sei- ner Familie vorgeführt; im zweiten Akt rük- ken Frau und Tochter und seine ganze Um- gebung von ihm ab; im dritten Akt fördert die ad hoe geführte Untersuchung seine Un- schuld zutage. Die alten dramatischen Einhei- ten sind gewahrt, das Stück schließt mit der bär diese Zeit vorgesehenen Schachpartie mit dem Freund. Dazwischen sind die Welt und die Sicherheit Herrn Erdmanns zerstört wor- den, was er aber im Stil dieser Farce nicht tragisch nimmt.— Ein handfestes Theater- stück, an dem nur der Versuch ins Dichteri- sche, ins Allgemein- Gültige zu erheben, leicht Irritiert. Der Vergleich mit bedeutenden Vor- bildern drängt sich zum Nachteil des Autors auf. Günther Haenel als Regisseur versuchte dle zum Teil recht papierne Sprache durch eine hintergründige Inszenierung kraftvoller zu machen. Doch konnte auch er das strecken- weise Absinken ins rein Schwankhafte nicht verhindern. Dennoch: die Darstellung ist großartig, und gibt vor allem Attila Hörbiger Als Erdmann die Möglichkeit, das ganze Regi- ster seines großen Könnens aufzuziehen. Er kontrastiert meisterhaft die Schuld seiner Selbstgerechtigkeit mit seiner Unschuld an dem vermeintlichen Mord. Nur bleibt auch er zu vordergründig, keinen Augenblick lang entsteht im Zuschauer auch nur der leiseste Verdacht, er könnte tatsächlich den Mord ver- übt haben. Heinz Moog als armselig undank- barer Nachbar, Hans Thimig als verblödeter Gärtner und Otto Schmöle als langjähriger Schachpartner bieten meisterhafte Charakter- studien. Von den vom Autor ein wenig stief- mütterlich bedachten Frauengestalten ver- mochte einzig Lilly Stepanek dem Haus- Laktotum Mizzi ein eigenes Profil zu geben. Daß eine Figur wie das rebellische Töchter- chen von einem handwerklich so geschickten Autor nicht anders zu beschäftigen war, als im Hintergrund herumzustehen, fiel unlieb- Sam auf. Elisabeth Freundlich stellen; sie fällt unmittelbar allen denjeni- gen in den Sinn, die es verdienen, sie wahr- zunehmen.“ Im nun zu Ende gehenden Jahr hat man auf der weiten Drehbühne des kulturellen Geschehens in Paris viel Licht gesehen und viel Schatten, viel Lärm gehört und manche beredte Stille. Aber wieviel mußte mam, ge- drängt von der Tages- Aktualität, mit Schwei- gen übergehen! Es ist wie überall:„Doch man sieht nur die im Lichte, die im Schatten sieht man nicht.“ Zehntausende von Studen- ten müssen mit ihren Professoren auf der Straße demonstrieren, um mehr Hörsäle, mehr Lehrkräfte, mehr Arbeitsmöglichkei- ten zu bekommen. Neben einigen Dutzend bekannter Künstler, sind es Tausende und aber Tausende, die in unsäglicher Not in dürf- tigen Ateliers an der Staffelei stehen. Bei den Schriftstellern, bei den Schauspielern sieht es nicht viel anders aus.„La vie, c'est de la victoire qui dure.“ Im Frühjahr 1959 aber soll nun endlich von der Stadt Paris ein schon seit Jahren aAngekündigtes Versprechen eingelöst wer- den: die Grundsteinlegung einer internatio- nalen Kunst-Siedlung an den Seine-Kais ge- genüber der Ile Saint-Louis, hinter dem Hotel de Ville. Zwei Milliarden Francs er- fordert die Verwirklichung des groß ange- legten Projekts, und viele europäische Län- der, darunter auch Deutschland, haben ihre Mithilfe zugesagt. Für ausländische Maler, Bildhauer und Musiker werden 250 Atelier- räume und Studios entstehen. Diese Kleine Kunst-Stadt von etwa zehntausend Quadrat- metern Bodenfläche wird sich also im Her- zen des alten Paris erheben. Was das Theater angeht, so mag es als erfreuliches Omen gewertet werden, daß zu dem halben Hundert Pariser Bühnenräume zum Jahresschluß zwei neue Klein- Bühnen hinzugekommen sind: das wie der Phönix aus der Asche wiedererstandene„Taschen- theater“ des Montparnasse, in dem nun je- der Sessel den Namen eines der Autoren oder Schauspieler trägt, die hier einst ihre ersten Schritte gemacht hatten, und weiter das„Récamier“, auch auf dem linken Ufer, nicht weit vom„Vieux Colombier“. Eine Zeit- lang war hier ein Kino-Saal und in früheren Zeiten ein sehr bekanntes Erziehungs-Insti- tut kür Mädchen der besten Gesellschaft. Jetzt hat das Rèecamier-Theater mit einem Stück von Garcia Lorca begonnen und dann folgt Jonesco. Wenn im Dezember wieder neunzehn Generalproben auf dem Pariser Theater-Spielplan standen— darunter die Wiederaufnahme des„Seidenen Schuh“ durch Barrault, den er im Palais Royal mit Offen- bachs„Vie Parisienne“ alternieren läßt—, So verdienen vielleicht zwei weniger be- kannte Bühnenhauser noch einer besonderen Erwähnung: die„Salle Valhubert“ im Auster- litz-Bahnhof, wo die Dramatische Spielschar der Eisenbahner mit Perfektion wenig be- kanmte Komödien von Cyrano de Bergerac oder Voltaire aufführt, und das kleine ent- legene„Théaàtre de Lutèce“, in dem zur Zeit Bertolt Brechts Frühwerk„Trommeln in der Nacht“ zu sehen ist. Noch ein paar Worte über deutsche kul- turelle Aktivitäten in der Seine- Hauptstadt: Als Auftakt für eine hoffentlich lange Reihe von Konzerten werden im neuen Jahr zu- nächst die Bamberger Symphoniker und das Münchner Kammer- Orchester Pro Arte hier gastieren. Eine große deutsche Kunstaus- stellung vom 6. Februar bis Ende März wird den Parisern in einer der angesehensten Gale- rien die berühmte Sammlung Haubrich und mit ihr die schönsten Aquarelle und Hand- zeichnungen des deutschen Expressionismus aus den Schätzen des Wallraf-Richartz- Museums, Köln, präsentieren. Für die kom- mende Saison des„Theaters der Nationen“ kann mit dem Besuch zweier deutscher Opern gerechnet werden und weiter mit einem deutschen Beitrag zu einem geplanten Shakespeare-Monat. Das Goethe-Haus, als deutsches Kultur- und Sprach-Institut in Paris, wird, nach dem Umbau, erst im November 1959 seinen Be- trieb aufnehmen können, was recht be- dauerlich ist. Inzwischen hat aber das„Mai- son de Allemagne“ der Cité Universitaire, also das Deutsche Haus der Pariser Univer- sitätsstadt, unter der rührigen Leitung von Dr. Steffen, weit über seinen eigentlichen Rahmen hinaus, beispielgebende Initiativen gezeigt. Mehrere Arbeitsgruppen, darunter solche über moderne Kunst oder musik- Kritische Betrachtungen, werden durch ein Hausquartett ergänzt, durch einen Kino- Klub, der jede Woche abwechselnd einen deutschen und einen französischen Film zur Diskussion stellt, durch höhere Sprachkurse und vor allem durch die von Wolfgang Meh- ring dirigierte junge Schauspielertruppe des „Theatre Franco-Allemand“, dessen neueste Inszenierung die„Goldtopf-Komödie“ von Plautus ist. H. ——— 5 F 8—— n Kurzgefaßte Phraſeologie zum Gebrauch in der modernen Abteilung der heutigen Kunſt-Aus⸗ ſtellungen. Sie malen alle aus einem Topf(über einen Leiſten). Das macht ja mein Junge von 5 Jahren beſſer! Wenn ich einen Topf mit Farbe ausgieße, kann ich den Effekt erzielen. Das iſt die reine Schmierage! Ich kenne doch die Natur, ſo ſehe ich ſie nicht. Ich verlange von einem Kunſtwerk, daß es mir etwas ſagt. Hier bin ich wohl im Saal der Verrückten. Das Kunſtwerk ſoll mich erheben. Ich verlange, daß mich ein Werk durch ein Sujet anzieht. Wenn ich meinen Pinſel über die Schulter auf die Leimwand ausſprigze, kommt ſo ein Bild heraus. Wenn ich ein Kunſtwerk nahebei beſehe, will ich etwas erkennen können, aber hier iſt ja nichts ausgeführt! Gegen die ewigen Regeln der Schönheit darf ein Kunſtwerk nicht verſtoßen. Das kann man doch nicht in ſein Zimmer hängen! Darf man ſo etwas denn malen? Das oberſte Prinzip der Kunſt iſt, zu gefallen. Nu aber raus aus der Schreckenskammer! (Hamburger Korreſpondent) *E„„ N* R* R N* N. ** M N „Schmierage!“ In der Mannheimer Kunsthalle wird zur der- zeitigen Ausstellung französischer Malerei der Gegenwart der hier reproduzierte Handzettel verteilt. Aus dem 13. Jahrgang(1898) der von Friedrich Pecht herausgegebenen Zeit- schrift„Die Kunst für alle“ stammend, beweist er wohl doch unmih verständlich, daß die Argu- mentation gegen die„moderne Kunst“ so alt ist wie jeder Avantgardismus und sich der gleichen Worte bedient, ob es sich nun— vie hier— um die Impressionisten Monet, Pissarro, Sisley und andere oder— bie heute— um die Abstrakten und Tachisten handelt. n jedem Winkel lauert das Dunkel Zur deutschen Erstaufführung eines neuen, in Amerika ungewöhnlich erfolgreichen Stöcks von William inge in Dösseldorf „Das Dunkel am Ende der Treppe“ heißt ein Stück aus dem amerikanischen Alltag, das William Inge, der 1913 geborene Autor von„Komm zurück, kleine Seba“,„Pienic“ und„Bus Stop“, geschrieben hat. Es wird seit einem Jahr am Broadway mit großem Erfolg gespielt und kam jetzt im Düssel- dorfer Schauspielhaus zur ersten Auffüh- rung in deutscher Sprache. Leo Mittler Hat es übersetzt, es war seine letzte Arbeit. William Inge sind die kleinen Dinge und Ereignisse im menschlichen Leben wichtiger als die„dramatischen Einzelfälle“. Er be- müht sich, am scheinbar Beiläufigen das Hintergründige zu zeigen, in jedem Winkel des Alltags das dort lauernde Dunkel zu beleuchten. Sein Freund Tennessee WiII- liams, dem Inge dieses Stück gewidmet hat, spricht von der„zärtlichen Humanität“, mit der Inge seine Schilderungen aus dem All- tag amerikanischer Provinzbewobmer durch- dringt. Allerdings lotet sie im„Dunkel am Ende der Treppe“ nicht so tief wie in„Pic- Hic“, 5 Die Fabel führt in die Wohnung eines Handlungsreisenden im Staate Oklahoma. Eine Ol-Hausse erschüttert die wirtschaft- liche Sicherheit der Familie Flood. Man schreibt das Jahr 1920. Rubin hat Existenz- Sorgen, über die er sich, um seine Frau Cora nicht zu beunruhigen, vorerst nicht aus- spricht. Cora fühlt sich, okt allein gelassen, vernachlässigt und beginnt an Rubins Ge- fühl für sie und die beiden Kinder zu zwei- feln. Die 16 jährige Tochter Reenie steckt So voller Minderwertigkeitskomplexe, daß es zu Auftritten kommt, weil sie auf eine Party gehen soll. Und der zehnjährige Sohn Sonny entwickelt einen schwierigen, intellektuellen Eigensinn, mit dem die Mutter nicht recht fertig wird. Es gibt oft Streit, und Rubin geht eines Tages„für immer“. Cora ruft ihre Schwe- ster und deren Mann zu Hilfe und muß erfahren, daß es auch in dieser scheinbar Slücklichen Ehe Abgründe gibt. Kein Wun- der, daß der kleine Sonny Angst vor dem titelgebenden Dunkel am Ende der Treppe hat. Er mag am Abend nicht allein in sein Zimmer hinaufgehen: er fürchtet sich,„weil mam nicht sehem kann, was vor einem liegt. Es könnte etwas Schreckliches sein.“ Inge packt in seine Milieuschilderung mit„Tiefgang“, in seinen symbolistisch be- reicherten Realismus dieser drei Akte zuviel himein. Zu psychologischen, philosophischen und Fragen zwüschen den Generationen Korrumt das Problem des Antisemitismus in Amerika. Die Tragödie von Reenies Ball- partner, einem in Militärakademien groß gewordenen, reizenden Siebzebhnjährigen, der sich nach der Party das Leben nimmt, Weil man ihn dort wieder einmal als Men- schen zweiter Ordnung klassifiziert hatte, Würde allein für ein Stück ausreichen. Hier ist sie fast am Rande eingeflickt, und die Hauptgeschichte von der Familie Flood findet ein zuckriges Ende: Rubin kehrt zurück, Cora verliert ihre Zweifel, Reenie wird, geläutert durch des jungen Juden Tod, Selbstbewußter und Sonny überwindet seine Afigst vor dem Dunkel und verträgt sich obendrein mit seiner bisher gehaßten Schwester. Durch ein Anblinken, aber nicht Aus- leuchten zu vieler„dunkler“ Winkel im gutbürgerlichen Hause der Familie Flood Verliert sich die Transparenz. Trotzdem ist das Stück mit seiner Selbstverständlichkeit is auf den Schluß) besser als die meisten anderen„Gebrauchsstücke“ der Gegenwart. Nur darf man es nicht so inszenieren wie Karl Heinz Stroux. Er verzeichnete den amerikeamischen Alltag gründlich und tat etliche tiefe Griffe in die sogenannte Kla- mattenkiste. Zutage kamen grelle„Lappen“: schwarze und weiße und ganz bunte. Es hätten aber graue sein müssen, graue in Allen Nuamcen vom dunklen, fast schwar- zen, bis zum glänzenden, fast silbrigen. Heidemarie Hatheyer spüelte, unberührt von der frischfröhlichen Regie, die Cora: eine Frau, wie es sie überall gibt, nörgelig, ver- Zweifelt, etwas egoistisch und im Grunde doch ein guter„Kerl“, und schließlich, von neuem glücklich, verjüngt und strahlend. Rudolf Therkatz blieb dem Rubin etwas Forsches schuldig, ergriff aber in stillen Szenen, wenn er von seiner inneren Un- sicherheit sprechen durfte. Gerda Maurus als Coras Schwester hatte zwischen plap- permder Geschäftigkeit erschütternde Minu- ten bei der Schilderung ihres verborgenen Unglücks. Einfühlsam Ingeborg Weickart als Reenie, nobel Jürgen Wölffer als junger Jude. Nicole Heesters wurde vom Regisseur gestattet, mit ihrem Temperament„durch- zugehen“. Hier versagte Stroux als Spiel- führer einer vehementen jungen Darstel- lerbegabung. Somja Luyken Die Theatergemeinde für das Nationaltheater Mannbe m eröffnet am Montag, 5. Januar, 20.15 Uhr, ihr eigenes Puppencheater unter dem Namen„Mannheimer Puppenspiele“ in Mann- heim, D 5, 4(gegenüber dem Rathaus). Dar- geboten wird das parodistische Spiel„Theater auf dem Arm“ nach einer Idee und mit dem Text von Jochem Helferich und Wilhelm Herr- mann. Hamlet hat viele Gesichter Der Dänenprinz in Amerika Heine sagte:„Wir kennen Hamlet wie unser eigenes Gesicht, das wir so oft im Spiegel erblicken, und das uns dennoch weniger bekannt ist, als man glauben sollte; denn begegnete uns jemand auf der Straße, der ganz so aussähe wie wir selber, so wür- den wir das befremdlich wohlbekannte Ant- Utz nur instinktmäßig anglotzen.“ Vielleicht hat man darum so viele Male versucht, den Dänenprinzen in verschiedener Form auf die Bühne zu bringen. Ein neuer Spiegel, 80 hoffte man, würde uns vielleicht eher in Hamlet die eigenen Gesichtszüge erkennen lassen. Viermal hat man in letzter Zeit in Ame- rika die Erneuerung versucht. Zuerst kam „Hamlet dividiert durch drei“, Paul Baker zeigte an der Baylor Universität in Texas den Prinzen dreimal seelisch gespalten— als launigen Edelmann, als schwankenden Philo- sophen mit mutter mörderischen Impulsen umd als Mann der Tat. Die drei Hamlet-Ge- sichter ließ der junge Regisseur von drei Schauspielern in gleicher grauer Maske gekleidet stets neben den vierten Hamlet treten, der die wichtigsten Verse sprach. Kurz darauf spielte auf einer leeren New Vorker Bühne die junge Irin Siobhan Me- Kenna den melancholischen Prinzen. Durch schwarze verdeckte Seitenwände kamen die Stimmen von Claudius, Ophelia, und den anderen, die man nie sehen konnte, als wäre alles Geschehen nur in der Ein- bildung des Helden. Und eben begegnete man, auch am Broad. Way, zwei anderen Hamlets: In„Cue for Pas- sion“ von Elmer Rice und„Hamlet on Step- ney Green“ von Bernard Kops. Das Rice- Schauspiel ist ein fesselnder, komplizierter, Polonius ö intellektueller Versuch, das Hamlet-Drama in unsere Tage zu versetzen und auf Grund moderner Psychoanalyse umzugestalten. Tony-Hamlet, ein wohlhabender junger 0 Mann, kehrt hier nach Reisen in Asien nach Kalifornien heim. Er findet seine Mutter, nach dem Tod des Vaters durch einen Myste- riösen Unglücksfall, mit einem anderen Mann verheiratet. Hamlet vermutet Mord, verbirgt aber seinen Schmerz hinter einem zymischen, ärgerlichen, beißenden Witz. Mit der Mutter verbindet ihn eine leidenschaft- liche Liebe— von dieser von seiner Kind- heit an zu sehr genährt—, die nun bis an die Grenze des auf der Bühne Erlaubten geht. Die Jugendgespielin Lucy-Ophelia bittet er, ihm zu vergessen, und in der Trunkenheit glaubt er den Geist des toten Vaters zu er- blicken. Danm setzt er unter Monologen den angeblichen Mord theatralisch wieder in Szene. Als er dann einen beinahe tödlichen Revolverschuß gegen einen Vorhang feuert, hinter dem er den Mörder seines Vaters ver- mutet(und er verwundet einen Unschul- digen), gibt ihm ein Psychiater-Horatio zu verstehen, daß er am Oedipus-Komplex leide, seinen Vater als Nebenbuhler so sehr gehaßt habe, daß er ihn selbst töten wollte, ferner, daß er sich mit dem Mann identifi- ziert habe, der angeblich den Mord beging, daß er also auf sich selbst den Schuß abge- feuert habe und nur fehlte, weil er doch nicht Selbstmord begehen wollte. In dieser Er- kenntnis schwinden die Hamlet-Romplexe, er geht in die Fremde, um dort seine Mutter Zzu vergessen. Als von Freud befruchtetes psychologi- sches Drama(zuweilen auch als Kriminal- stück mit Spannung) geht dieser Hamlet nicht so sehr in die Tiefe, wird aber von grohartigen Rollen zum Erfolg geführt. John Kerr ließ den melancholischen Helden beson- ders eindrucksvoll zwischen seinen vielen Gefühlen und Gedanken schwanken. In„Hamlet on Stepney Green“ lebt der Held im Londoner East End als Sohn eines Heringsbhändlers und will Schlagersänger Werden. Bevor er dann den vermuteten Mord am Vater rächen kann, erwacht er aus sei- nem unsinnigen Wahn und sinkt in die Arme des jungen Mädchens, die ihn von Kindheit an angebetet hat. Das Stück will eine Reihe von philosophischen Moralsätzen illustrieren, Wie daß die großen Lebensträume mit der Zeit, in Angst, unter dem Druck unserer Umgebung, zu Asche werden. Kops ist 2 Dichter, der mit dem Pinsel eines unfertigen Phantasten malt und Rätsel aufgibt, die man nicht alle lösen kann. Darum kann diese durchaus untragische Hamlet-Fabel nücht recht befriedigen. H. B. Kranz Neun in Verdacht VON DELANA AMES — 10 Fortsetzung Auch Sue und Dwight kamen aus dem Wohnzimmer; sie hielten sich zärtlich an der Hand. Der Augenblick schien nicht geeignet, auf Hals aufregende Vermutung über den Grund für Mirandas Einladung zum Wochen- ende noch näher einzugehen. Bei näherer Untersuchung mußte sie sich zweifellos ent- Weder als ein Produkt von Hals blühender Phantasie oder als eine harmlose, bei der Wiederholung entstellte Bemerkung von Miranda erweisen. Das einzig Vernünftige War, Miranda selbst zu fragen, was es damit auf sich habe. „eh wünschte“, hörte ich Hal vor sich Himmurmeln, Julian wäre hier.“ Peggy hatte ihrem Vater einen Cocktail eingegossen, doch statt ihm das Glas hin- zureichen, fuhr sie plötzlich zusammen. „Gieß dir selbst ein“, murmelte sie.„Dies trinke ich.“ Darauf goß sie den Inhalt des Glases mit einer rätselhaften Mischung von Trotz und Widerwillen hinunter. Dias blieb mir nur einen Augenblick rätsel- Hatt. Ein junger Mann mit dunklem, krau- sem Haar und freundlich lächelndem Gesicht War in unseren Kreis gekommen. Sue stellte ihn vor, wobei sie Peggy vielsagend Grimas- sen schnitt. Auch ohne das hätte ich den neuen Gast für eben enen Bill MeFarlan gehalten, der sich in der Küche so nützlich machte. MefFarlan war etwa fünfundzwanzig Jahre alt, schlank, aber kräftig gebaut und stot- terte gelegentlich. Mit ihm hatten wir ver- mutlich die Fennilie und alle ihre Gäste ken- nengelernt. Außer Gastgeberin natürlich. Ich sah über Bill hinweg, weil ich er- wartete, dag Miranda nun endlich gleich erscheinen müsse, aber vergeblich. Wir gli- chen einem vollzählig versammelten Sym- phonieorchester, das auf den Dirigenten Wartet. Während Sue uns erklärte, daß Bill in der Atomforschungsstation bei Alamogordo arbeite, schlängelte er sich an Peggy heran, die ihre gespielte Gleichgültigkeit reichlich übertrieb. „M- Miranda meint, wir könnten nach dem Essen in Alamogordo ins Kino gehen“, sagte er schüchtern. Peggy sah ihn flüchtig an, als bemerkte sie ihn erst jetzt.„Wie nett von ihr“, fuhr sie sarkastisch los.„Ich war schon in Alamo- gordo im Kino. Und zufällig mache ich heute mit Larry Fergusson in seinem neuen Wagen ne Kneiptour.“ „Oh“, sagte Bill,„M- Miranda hat nur ge- dacht, Wir. „Sag ihr, sie soll sich was anderes aus- denken. Nein! Renn nicht hin und tratsche Miranda alles aus— über Larry Fergusson, meine ich. Verstanden?“ 5 „Sicher, nur M- Miranda wird nicht.“ Peggy drehte ihm schroff den Rücken. „Trink, Paps“, sagte sie. Das junge Liebesglück war anscheinend nicht ganz ungetrübt. Daß Larry Fergusson in den Kreis der Familie auf Palo Alto auf- genommen wurde, empfand ich als Miß- klang. Sue erzählte mir inzwischen, wie reizend Miranda zu ihr und Dwight gewesen sei. Ich wollte gern mehr darüber erfahren, doch wurde es immer schwieriger, auf alles gleichzeitig aufzupassen. Mein Interesse für jede Kleinigkeit auf Palo Alto mußte sich wohl, ohne daß ich es wußte, seit Hals auf- Unserer regender Ankündigung erheblich gesteigert haben. Sie wirkte als Stimulans— wie Voigts Salzmandeln—, machte mich aber übertrieben und krankhaft hellhörig. Wie allen übereifrigen Beobachtern entgingen mir wahrscheinlich gerade die Dinge, die wenn überhaupt welche— etwas zu besagen hatten. So war zum Beispiel Mirandas ständige Abwesenheit für mich zu einer flxen Idee geworden. Sonst schien sich niemand darum zu kümmern, es konnte also hier durchaus so üblich sein. Außerdem war ich schrecklich müde und hungrig. Wir waren an diesem Tag eine lange Strecke gefahren, und die Hiya Toots waren nur noch eine blasse, in mir rumorende Erinnerung. Sue fing jetzt von ihren Kopfschmerzen an und klagte, daß ihr kühl sei. Ich hatte ihre Kopfschmerzen fast vergessen und ließ durchblicken, daß sie vielleicht eines lang- samen Hungertodes stürbe. Peggy war auf- merksamer. Sie lief wenigstens in ihr Zim. mer und kam mit einer hellgrünen Strick- jacke zurück. Hal bot Aspirin an, und Mr. Voigt schlug Alkohol vor. Dwight machte ein besorgtes und gleichzeitig leicht gereiz- tes Gesicht. Ich erinnerte mich an seinen Ausspruch am Telefon— wieder eine von ihren Migränen, hatte er gesagt, in einem Ton, als sei sein Mitleid so oft in Anspruch genommen worden, daß es allmählich ab- genutzt war. Ich muß Sue Karnak zugute halten, daß sie fand, alle machten ihretwegen viel zu viel Umstände. „Ich hätte in Alamogordo bleiben sollen, Wie wir zuerst besprochen hatten“, sagte sie zu ihrem Mann.„Wenn es mir niemand übelnimmt, leg ich mich, glaub ich, eine Weile hin.“ ö„Ohne Abendbrot?“ fragte Hal fassungs. 08. „Ich habe kein bißchen Hunger.“ Sie lächelte und erhob sich standhaft. Alle, außer Dwight, kamen mit Einwän- den; Sue zog sich mit weiteren liebens- würdigen Entschuldigungen zurück. Wir sahen sie an diesem Abend nicht mehr. Wir tranken noch etwas und unterhielten uns obenhin über Kopfschmerzen, die wir mal gehabt hatten. Hal, der Miranda bestellt hatte, daß Sue sich zurückgezogen hätte, kam zurück und sagte, Miranda brächte Sue das Abendbrot selbst auf ihr Zimmer, und wir anderen sollten uns ohne sie zu Tisch setzen. Wir setzten uns zu acht— der achte war Winthrop— an einen langen Refektoriums- tisch aus poliertem Zedernholz, den Miranda in einem Kloster im alten Mexiko gekauft hatte. Der Armlehnstuhl an der Spitze der Tafel— Mirandas— blieb leer. Während des Essens mußte ich immer wieder zu ihm hinübersehen. Er ging mir allmählich auf die Nerven. Winthrop, der nicht ruhig zu halten war, ständig von Tisch aufstand, aus dem Zim- mer lief und sich wieder hinsetzte, kam schließlich zurück und teilte uns mit, daß „Mammie mit der Frau ißt“. „Sie ist krank“, verkündete er mit gravi- tätischer Schadenfreude.„Ich glaube, sie kriegt ein Baby.“ Da der Junge wußte, daß er sein Publi- kum gewonnen hatte, ließ er sich weiter darüber aus.„Mammie will bei ihr bleiben. bis es kommt. Sie ist aufgeregt wie eine alte Klapperschlange. Vielleicht wird's so ein Bastard wie ich.“ Trotz Winthrops Versuch, die Unter- haltung zu beleben, war das Abendessen ein Mißerfolg. Vielleicht hätte die Anwesenheit des Hausherrn oder der Hausfrau dem Ab. hilfe geschaffen. Hal war nach wie vor ängstlich und nachdenklich; der alte Voigt tat zwar. was er konnte, verlor aber unter der Wirkung des Alkohols seinen Faden; Peggy und Bill machten sich weiter in ver. bissenem Schweigen den Hof und wandten sich mit ihren seltenen Bemerkungen aus- drücklich nur an dritte. Trotz der aus- gezeichneten enchiladas, einer Art dünner Maispfannkuchen, wie sich herausstellte, mit einer schweren Sahnensoße, in der ich Zwiebeln, spanischen Pfeffer und Käse her- ausschmeckte, atmeten wir alle erleichtert auf, als das mexikanische Mädchen uns er- öffnete, daß der Kaffee im Innenhof serviert Sei. Es war herrlich kühl dort, und in der Dunkelheit schimmerten nur ein paar ab- geschirmte elektrische Lampen als runde, gelbe Flecken auf, um die Insekten summ- ten. Ueber der rissigen Kante der violetten Berge hing jetzt windschief der Mond in vollem Glanz. Bei Tag hatte ich ihn nicht gesehen; es war fast, als wäre er aufgehängt Worden, während wir beim Abendbrot sagen. Ich war ehrlich müde und zum erstenmal froh, daß wir anscheinend in einem Haus waren, in dem niemand es für notwendig hielt, sich gesellig— oder auch nur höflich zu benehmen. Ich merkte, wie auch Dago- bert ein Gähnen unterdrückte. Hal und Winthrop hatten irgend etwas von Pferde- füttern gesagt und waren abgezogen. Dwight war im Wohnzimmer geblieben und spielte im Dunkeln leise Brahms Wiegenlied“. Voigt sah bei den Klängen von seiner Kognakglas auf und murmelte etwas von blödem Spielkastenmist'. Bill schimpfte Wortlos auf Peggy, und Peggy selbst der einzig unruhige Geist, schaute ständig on ihrer Armbanduhr hoch und über den Hof. Jie sah etwas angespannt aus, fand ich, ohne daß mich das besonders interessierte. Fortsetzung folgt) 1
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13 (31.12.1958) 300
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